September
Das Lied vom Weinberg (Jesaja 5,1-7)
Für Kinder
Was für eine Verwüstung! Steine liegen ungeordnet herum, von den Reben kaum noch eine Spur. Wenn wir ungerecht gegenüber unseren Mitmenschen sind und uns die Armen egal sind, wird unsere Gesellschaft zu einer solchen Wüste. Auffällig ist auch die Schlange vorne. Du wirst sie noch wiedersehen …
Felix Hoffmann, 1911-1975, Das Lied vom Weinberg, Glasmalerei, Bern, Münster
Biblischer Text
Singen will ich von meinem Freund,
das Lied meines Liebsten von seinem Weinberg!
Mein Freund hatte einen Weinberg, auf einer fruchtbaren Höhe.
Er grub ihn um und befreite ihn von Steinen
und bepflanzte ihn mit edlen Reben.
In seiner Mitte baute er einen Turm mit einer Weinpresse.
Dann hoffte er, dass er süße Trauben trage,
doch brachte er nur saure Trauben hervor.
„Nun, ihr Einwohner von Jerusalem und Männer aus Juda,
richtet doch zwischen mir und meinem Weinberg:
Was hätte ich noch für meinen Weinberg tun können?
Wie konnte ich nur hoffen, er würde sü.e Trauben tragen –
nur saure Trauben hat er hervorgebracht!
Nun, so will ich euch wissen lassen,
was ich mit meinem Weinberg tun werde:
Seine Hecke ausreißen, sodass er kahlgefressen wird;
seine Mauer einreißen, sodass er zertrampelt wird.
Zu Ödland will ich ihn machen.
Dornen und Disteln werden in ihm wachsen.
Und den Wolken verbiete ich, Regen über ihn zu regnen.“
Denn der Weinberg des HERRN ist das Haus Israel,
und die Männer von Juda sind die Reben,
die er zu seiner Freude gepflanzt hat!
Er hoffte auf Rechtsspruch, doch seht: Rechtsbruch!
Er hoffte auf Gerechtigkeit, doch seht: Schlechtigkeit!
Für Erwachsene
In seinem Aufbau erinnert das Weinberglied an die Natan-Erzählung vom Armen und Reichen (2 Sam 12,1–12). Zunächst ist auch im Weinberglied die Deutung der Bildelemente nicht offensichtlich, und erst allmählich realisieren die Hörer, dass sie selbst mit dem Weinberg gemeint sind und von JHWH, dem Weinbergbesitzer, hart angeklagt und aufgerüttelt werden sollen. Das Weinberglied ist eine Warnung an die damaligen und zukünftigen Hörer, den Hilfeschrei der Unterdrückten nicht zu überhören. Offen bleibt zunächst, wohin JHWHs Enttäuschung über seinen Weinberg führt. Erst an späterer Stelle im Buch kommt das Thema des Weinbergliedes wieder zur Sprache (27, 2–6) und wird zu einem glücklichen Ende geführt (siehe S. 85). – Das Weinberglied hat auf die christliche Literatur großen Einfluss ausgeübt. Im Neuen Testament klingt es in der Allegorie vom wahren Weinstock (Joh 15,1–16) wider und bildet die Grundlage für das Gleichnis von den bösen Winzern (Mt 21,33–46 u.a.), dort jedoch in einer hochproblematischen antijüdischen Erweiterung und Auslegung, die „auf tragische Weise zur Feindschaft von Kirche und Synagoge beigetragen“ (Beuken 2003, 140) hat.
Bildnachweis
Hoffmann, Das Lied vom Weinberg, Foto: Andreas Brechbühl / Berner Münster