Plädoyer für eine neue Wertschätzung des Alten/Ersten Testaments

Allegorie von Judentum und Christentum, Bronzeskultptur, Philadelphia, St. Joseph’s University
(Foto: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/68/Synagoga_and_Ecclesia_in_Our_Time.jpg, letzter Zugriff am 06.04.2024)

Das Alte Testament – ein Relikt aus fernen Zeiten?

Was für einen Sinn kann es machen, sich mit dem Alten Testament zu beschäftigen? Ist dieser Teil der christlichen Bibel nicht unwichtig im Hinblick auf das Neue Testament, veraltet, wie der Name schon sagt, längst überholt und zudem voll von Grausamkeiten, auf die wir gut und gern verzichten können? Sollten wir nicht den alttestamentlichen „Gott der Rache“ endlich hinter uns lassen und uns ganz auf den „Gott der Liebe“ im Neuen Testament konzentrieren? Haben wir nicht gelernt, dass das Alte Testament höchstens so etwas wie eine Vorstufe ist, eine „Verheißung“ dessen, was dann seine „Erfüllung“ im Neuen Testament mit der Ankunft Christi findet?

Diese bewusst provokativ gestellten Fragen enthalten eine Fülle von gängigen Klischees, die sich leider hartnäckig halten. Wer meint, das Gottesbild beider Testamente auf eine griffige Formel bringen zu können, kennt nicht die Vielgestaltigkeit der biblischen Texte und ihrer Aussagen.

Das Alte Testament ist ein zutiefst praktisch angelegtes Werk; hier geht es um das tägliche Leben des Menschen, um seine irdischen Probleme, Zweifel und Nöte. Hier geht es um eine Gottesbeziehung, die nur der erfährt, der das Leben wagt und dabei auf Gottes Wegen geht. Das Alte Testament schützt vor einer Weltflucht, die latent als Gefahr im Christentum lauert. Christen sind immer wieder in der Versuchung, so der katholische Theologe Erich Zenger (2004, 194), „Heil in die individuelle Seele oder ins Jenseits zu verlagern“.

Wer das Alte Testament ausblenden will, „dünnt“ die christliche Botschaft aus, nimmt ihr die Fülle und Komplexität, die sie durch das Nebeneinander vieler verschiedener Stimmen und Gotteserfahrungen hat. Wie arm an Zeugnissen wäre die christliche Religion, wenn sie die eindrucksvollen Gottesbegegnungserzählungen, das leidenschaftliche Beten zu Gott in den Psalmen, die Zweifel eines Hiob an Gott und die prophetische Rede in den alttestamentlichen Büchern einfach aussparte (Zenger 2004, 192)!

Zudem: Jesus war Jude, das Alte Testament war seine Bibel, aus ihr heraus hat er gelebt und gewirkt. Sein Wort ist „durchtränkt“ von Bezügen zur Tora, zu den Propheten und zu den Psalmen. Wenn uns Christen das Alte Testament unbekannt ist, muss uns auch Christus fremd bleiben: „Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen!“, lautet ein berühmtes Zitat des Kirchenvaters Hieronymus, der mit „Schrift“ die Bibel Israels meint und nicht etwa das Neue Testament (Dohmen 1995, 103). Wenn wir also das Neue Testament verstehen wollen, können wir dies nur vom Alten Testament her (ebd., 100).
Altes Testament = Erstes Testament

Sicherlich ist die missverständliche, unglückliche Begrifflichkeit „Altes“ Testament, die erst gegen Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus durch die Absetzung der Kirche vom Judentum geschaffen wurde, nicht ganz unschuldig am schlechten Ansehen, das dieses Testament genießt. Deshalb sprechen heute viele Menschen lieber vom „Ersten“ Testament für das Alte (auch: „jüdische Bibel“ oder „Schrift“), um sprachlich einer Abwertung vorzubeugen. So kann man herausstellen, dass der erste Teil der christlichen Bibel einen bleibenden Eigenwert besitzt und das grundlegende Fundament ist, auf dem das Handeln Gottes im zweiten, sogenannten „Neuen“ Testament aufbaut (Zenger 2004, 152-154).

Denkbare Ursachen für die Geringschätzung des Ersten Testaments unter Christen

Wie aber kommt es, dass das Erste Testament heute so sehr im christlichen Abseits steht? Hat die Geringschätzung vielleicht nur mit mangelnder Kenntnis zu tun? Eine Ursache für die Fremdheit, die viele empfinden, wenn es um Texte des Ersten Testaments geht, könnte in der liturgischen Praxis der Kirchen zu suchen sein. Während die Evangelientexte im Wechsel der drei Lesejahre alle einmal verlesen und ausgelegt werden, gibt es keine Bemühung um Vollständigkeit bei den Lesungen des Ersten Testaments. Und bei zwei möglichen Lesungen wird oft der neutestamentliche Text bevorzugt oder die Lesung aus dem Ersten Testament als vorbereitender Hilfstext für das Evangelium verstanden. Entscheidend für die Auswahl der Texte des Ersten Testaments für die Liturgie war nicht, ob die Texte zentral und wichtig waren, sondern ob sie auch mit den Evangelien korrespondierten (Ortkemper 2000, 55). Kein Wunder also, dass dem Kirchgänger das Erste Testament in weiten Teilen unzugänglich erscheint. Da sich jedoch viele Christen inzwischen vom kirchlichen Leben verabschiedet haben, kann dies lange nicht die Hauptursache für die große Unbekanntheit der Bücher des Ersten Testaments sein. Der Grund muss tiefer liegen.

Früher Disput um das Erste Testament

Möglicherweise liegt die wesentliche Ursache für die christliche Geringschätzung des Ersten Testaments weniger in mangelnden Kenntnissen als in der Art und Weise, wie die Christen und die Kirche schon seit frühester Zeit mit dem ersten Teil ihrer Bibel umgegangen sind. Zunächst war die Bibel Israels ganz selbstverständlich auch die Bibel des sich neu formierenden Christentums. Etwa Mitte des zweiten Jahrhunderts fing man dann an, verschiedene im Urchristentum entstandene Schriften über Jesus zu sammeln. Dieser Prozess führte zur Infragestellung der theologischen Relevanz der jüdischen Bibel für das Christentum. Bekanntester und radikalster Vertreter dieser Infragestellung war um etwa 140 nach Christus Markion, ein Schiffsreeder aus Kleinasien. Er wollte das Christentum als eine radikal neue Religion gerade auch im Gegensatz zum Judentum profilieren. Alles, was in den Schriften jüdisch war, lehnte er ab. So wollte er nicht nur die ganze Bibel Israels streichen, sondern dazu auch noch große Partien der Schriften des Urchristentums. Übrig blieb nur ein kleiner zweiteiliger Kanon: Das Lukasevangelium (nach Streichung der Zitate aus der Bibel Israels) und zehn von ihm „entjudaisierte“ Paulusbriefe. Seither wird jede Tendenz, die Gültigkeit des Ersten Testaments für das Christentum anzuzweifeln, als „Markionismus“ bezeichnet. Immerhin aber machte die junge Kirche das nicht mit, sondern behielt alle Schriften der Bibel Israels bei und stellte die neuen Schriften nicht vor, sondern hinter die Bibel Israels. So entstand die EINE, zweigeteilte christliche Bibel, wie wir sie heute noch haben.

Die typologische Schriftauslegung als Kern des Problems?

Wie aber konnte es dann zu einer Geringschätzung des Ersten Testaments kommen, wo es doch am Anfang eine ganz klare, dezidierte Entscheidung für die jüdische Bibel gegeben hatte? Schuld daran war möglicherweise eine früh schon bei den Kirchenvätern praktizierte Methode der Exegese, die „typologische Schriftauslegung“ genannt wird. Diese Methode kann spannende Bezüge zwischen verschiedenen Ereignissen innerhalb des Ersten Testaments und zwischen den beiden Teilen der christlichen Bibel aufdecken. Dort jedoch, wo mit ihr eine heilsgeschichtliche Steigerung konstruiert wird, hat sie fatale Folgen. Dann degeneriert die Typologie zu einer wertenden Deutungsweise, die darlegt, wie Ereignisse, Personen und Handlungen des Ersten Testaments ein unvollkommenes Vorbild (Typus) für das sind, was schließlich im Neuen Testament in vollendeter Form als „Gegenbild“ (Antitypus) erscheint. Das Erste Testament wird dann nur noch rückblickend im Lichte des Zweiten Testaments betrachtet, so, als sei es einzig und allein dazu geschrieben worden, noch ausstehende wichtige Heilsereignisse verhüllt anzukündigen.

Die so verstandene Typologie ist kein geeigneter Weg, um das Verhältnis beider Testamente zueinander zu beschreiben. Dennoch gewann sie im Laufe der Kirchengeschichte an Einfluss und hat viel dazu beigetragen, dass das Erste Testament in Misskredit geriet. Im Hinblick auf das christlich-jüdische Verhältnis ist die Typologie deshalb eine problematische Auslegungsmethode, da sie implizit den eigenständigen Wert der jüdischen Bibel leugnet.

Denn was im Ersten Testament steht, ist nicht vorläufiges, sondern vollgültiges Wort Gottes, das meint, was es sagt, und sich nicht erst gegenüber dem Neuen Testament rechtfertigen muss. Es braucht nicht das Neue Testament, um verstanden zu werden, sondern hat aus sich heraus bleibende Bedeutung und kann in sich bestehen (Zenger 2004, 138). Wenn wir das Erste Testament hingegen nur mit christlicher Brille vom Neuen her auslegen, ist damit eine große Überheblichkeit verknüpft: Dann setzen wir voraus, dass wir viel besser als die Juden wüssten, was Gott eigentlich offenbaren wollte. Unterstellt ist damit auch, dass wir Christen von Anfang an die immer schon von Gott anvisierten Adressaten des Ersten Testaments gewesen wären und das „wahre Israel“ seien (Zenger 2008, 16).

Es gibt keinen Sündenbock

Sicherlich wäre es falsch, die typologische Exegese allein zum Sündenbock für die Jahrtausende alte Missachtung der Würde des Ersten Testaments zu machen. Sie ist ein wichtiger Baustein in einer Kette von vielen Ursachen, die dazu geführt haben, dass das Erste Testament bis heute ein Schattendasein führt. Es wird lange dauern, bis der große Berg an Vorurteilen, Missverständnissen und Unkenntnis abgebaut ist. Wollen wir aber den christlich-jüdischen Dialog ernst nehmen und zugleich ein vertieftes Verständnis unserer eigenen christlichen Religion erreichen, müssen wir endlich aufrichtig damit anfangen, unser Erstes Testament als fundamentalen Teil unserer christlichen Identität wahrzunehmen.

Konsequenzen für die religiöse Erziehung

Wir können unsere Bibel als Ganzes nur wirklich verstehen, wenn wir das Erste Testament kennen. Das gilt auch für unsere Kinder. Wenn wir sie schon von früh an mit der zunächst „fremden“ Welt des Ersten Testaments vertraut machen, geben wir ihnen die Möglichkeit, die jüdische Wurzel unseres Glaubens lieben und schätzen zu lernen und Vorurteile gar nicht erst aufkommen zu lassen. Den „älteren Bruder“, zu kennen, sollte zur Selbstverständlichkeit werden (vgl. die Rede von Johannes Paul II. in der Großen Synagoge Roms am 13. April 1984, in der er die Juden als unsere „bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder“ bezeichnet; zitiert nach Zenger 2004, 11).
Die religiöse Erziehung unserer Kinder sollte in Zukunft grundsätzlich nur noch im interreligiösen und ökumenischen Geist geschehen (Taschner 2003, 88). Sie muss sich im christlichen Unterricht intensiv mit dem Judentum und dann auch mit anderen Religionen beschäftigen. Zu bitter sind unsere Erfahrungen mit der Vergangenheit und Gegenwart! Nur im Dialog können wir die immer noch kursierenden stereotypen Vorurteile über die jüdische Religion ausmerzen und zusammen mit unseren Kindern ein Gespür dafür entwickeln, wie kostbar das jüdische Erbe ist, das wir geschenkt bekommen haben. Religion sollte Kindern grundsätzlich vermittelt werden als etwas, das Menschen miteinander verbindet, statt sie zu trennen.


Literatur:

Dohmen, Christoph, 1995, Vom Umgang mit dem Alten Testament, Stuttgart.

Ortkemper, Franz-Josef, 1. Quartal 2000, Zwischenruf: Das Alte Testament ist das Stiefkind der liturgischen Lesungen!, in: Bibel und Kirche, Zwei Testamente – eine Bibel.

Zenger, Erich, 22004, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf.

Zenger, Erich, u.a., 72008, Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie), Stuttgart.